Funtana Chistagna im Val d'Assa (Teil 1)
Autor und Fotos Joe Meier
Abb. 1 Resgia - Holzbrücke, ab hier wurde Holz geflösst.
Abb. 2 Sandlauf-Käfer - Val d'Assa, InnDas Val d’Assa erzählt eine Sage von verbotener Liebe, Tränen, reinem Quellwasser; dazu über Reiste und sausende Baumstämme, die Valtellina-Umlaufseilbahn, von wundersamen Flechten, wohltuender Einsamkeit und natürlich von Orchideen.
Es war einmal. Nein, es folgt kein Märchen, wenn es um die Orchideen im vergessenen Tal, dem Val d’Assa geht. Kaum ein Bergeinschnitt im Unterengadin wird so wenig begangen. Mag es am steilen Aufstieg liegen, oder dass die meisten Menschen eher offenes Gelände mit prachtvoller Aussicht mögen? Kann es sein, dass man von diesem Tal nicht allzu viel erwartet und die absehbaren, fast abschreckenden Strapazen nicht auf sich nehmen will? Vor allem, wenn man eingangs vor der rund 200 m hohen Wand und den Wasserfällen steht. Sind es die kitzeligen Bachübergänge, die uns abhalten? Was auch immer - wie man sich doch täuschen kann.
Entscheidet man sich trotzdem, von der Holzbrücke in Resgia ins Tal einzusteigen, wählt man gut. Vor uns liegt ein allmählich steiler werdendes Gelände, das in den nächsten 350 bis 750 Höhenmetern viel von uns abverlangt, dafür aber botanisch und geologisch reich belohnt. Flechten- und Pilzkundler kommen nicht zu kurz. Ist man in Eile, bleibt man besser dem Inn entlang.
Ein herzlicher Empfang: die Bergblumen stehen in Resgia Spalier
Abb. 3 Herminium monorchis, Honigorchis - Resgia
Abb. 4 Herminium monorchis, Honigorchis - Resgia
Abb. 5 Umlaufseilbahn - Sur En Valtinella, Anhängen des BaumstammesIst man ab Mitte Juni unterwegs, bieten das Umfeld der ehemaligen kleinen Sägerei und der Valtellina Holzseilbahn, oberhalb der Brücke in Resgia 1090 müM, einen perfekten Einstieg. Geeignet für Blumenliebhaber ganz allgemein und fortgeschrittene Botaniker und Insektenkundler im Besonderen. Auch das Umfeld des Auenwaldes nahebei fordert botanisch ungemein. Sucht man hier Orchideen, könnte die Herausforderung zünftig sein. Genaues Hinschauen lohnt sich. Und bald einmal zeigen sich die ersten, niedlichen Honigorchis (Herminium monorchis), die noch knospig sind oder eben erst die untersten Blüten öffnen. Häufiger blühend anzutreffen sind sie dann erst im Juli. Gehört man zu den Glücklichen, strahlen uns Männertreu (Nigritella rhellicani) auf knapp 1100 müM entgegen, bevor man in den Wald eintaucht. Auch Angebranntes Knabenkraut (Orchis ustulata), beiden Handwurzarten (Gymnadenia conopsea, Gymnadenia odoratissima) und Fuchs-Fingerwurz (Dactylorhiza fuchsii) zeigen sich zunehmend häufiger. Das Schwarze Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), zwar standortwechselnd und unregelmässig blühend, hat uns auch gesehen, der Natternkopf (Echium vulgare) nickt zu. Die Feuerlilien (Lilium bulbiferum) verraten ihr Versteck. Fast hätte uns die Quendel-Seide (Cuscuta epithymum) gefangen; noch blüht sie nicht. Dafür voll geöffnet grüssen verschiedene Enziane (Gentiana sp) u.a. Bitterer Enzian (Gentiana amarella) dann im August, Ehrenpreis- (Veronica sp.) und Kleearten (Trifolium sp.). Edelweisse (Leontopodium alpinum) sind zu finden. Staunend bewundern wir das Krönchen der Spinnwebhauswurz (Sempervivum arachnoideum); die Ochsenzunge (Anchusa officinalis) heisst uns willkommen u.v.a. Unwillkürlich fragt man sich, ob man bei soviel „Ablenkung und Zeitverlust“ das Val d’Assa überhaupt noch schafft (einige Bilder am Schluss der Seite). Wie gerne hätte man sich mit der „Valtellina-Umlaufseilbahn“ ab Resgia auf ca. 1430 müM transportieren lassen (unerlaubterweise versteht sich). Tempi passati.
Waldnutzung gestern – ein Exkurs
Abb. 7 Ramosch, Val d‘Assa, Unterengadin ca. 1886 (Bildquelle: www.forstmuseum.ch/holzernte-detail.php?id=1704)
Abb. 6 Wasserfall, Reistkanal ob Resgia ca. 1888, Holzstämme sausten auf Holzbahn ins Tal (Bildquelle: www.forstmuseum.ch/holzernte-detail.php?id=3625)
Die forstliche Nutzungsgeschichte im Unterengadin war lange Zeit durch rücksichtslose Ausbeutung für die Salzpfannen in Hall geprägt. Dazu gibt es verschiedene Untersuchungen und Beiträge. Aktenkundig sind grössere Schläge in den Nebentälern Val d’Ascharina (1881) und Val d’Assa (1886 - 1888). Von letzterem Schlag sind Fotografien der Reiste bekannt.
Über die im Bilde sichtbare imposante Reiste von 1886 (damals Holzriess genannt) neben dem Wasserfall in Resgia, sollen 14'000 Ster Holz aus den beiden Tälern zum Inn gerutscht worden sein, um anschliessend nach Hall geflösst zu werden. Nichts für schwache Nerven mag die Arbeit an der Reiste, 200 m über der Talsohle, gewesen sein.
Um 1936 herum ist die Valtellina-Umlaufseilbahn als Ersatz für die Reiste ins Val d’Assa gebaut worden. Sie kostete gerade einmal 25'000 Franken. Über einige Jahrzehnte wurde diese raffinierte Einrichtung, „mit Schwung und ohne Motor“ nur durch Schwerkraft in Gang gehalten, rege benutzt. Anfangs der 80-er Jahre ersetzten sie mobile Seilkrananlagen. Die abgebaute Seilbahn kann in Sent/Sur En beim Seilpark (Campingplatz), als reaktiviertes forst-geschichtliches Demonstrationsobjekt, besichtigt werden. Seit 19.9.2013 ist sogar noch eine zweite Bahn gleichenorts zu bestaunen (siehe auch: http://www.waldwissen.net/lernen/forstgeschichte/wsl_valtellinaseilbahn/index_DE).
Es sieht heute ganz danach aus, als hätte die damalige Wald-Ausbeutung den Orchideen im Val d’Assa kaum geschadet. Wenn der Mensch in diesem Gebiet auch in Zukunft keinen gröberen Schaden anrichtet, dürften die erwähnten Täler Eldorados für Blumen- und Tierfreunde bleiben.
Strapaziöser Aufstieg
Abb. 9 Krustenflechte "playing dog" - Val d'Assa
Abb. 8 Bartflechte - Val d'Assa
Abb. 11 Krustenflechtenstein und Bach Val d'Assa
Abb. 10 Cypripedium calceolus, Frauenschuh – Val d'Assa
Solange der Atem reicht, geht es stramm in die Steilheit des Weges aufwärts, entlang dem Val d’Assa-Bach. Attraktive Wasserfälle und deren Rauschen ziehen uns hoch, kürzen den Weg. Bald sind wir im tiefen Nadelwald. Begleitend sind Frauenschuhe (Cypripedium calceolus), Nestwurze (Neottia nidus-avis), Weiße Waldhyazinthen (Platanthera bifolia), Bart- und Blattflechten (Lichen sp.), mitunter sind sie von fröhlichen Sujets der Krustenflechten umgeben.
Abb. 13 Lycogala epidendrum, Blutmilchpilz
Abb. 12 Kleiner Nest-Erdstern, vermutlich Geastrum quadrifidum; Val d'Assa
Abb. 15 Trichia decipiens, Schleimpilzart
Abb. 14 Spitzmorchel - Morchella elata; Val d'Assa
Und die Pilze, sie sind längst nicht alle essbar, erfreuen den Pilzkundler.
Es gibt soviel zu bestaunen, dass wir den etwa stündigen Aufstieg und die Kraxlerei bis zum etwas flacheren Teil auf 1450 müM ohne murren bewältigen.
Abb. 16 Waldweg nach Funtana Chistagna, früher Holz-RückewegDer steil angelegte Weg diente früher den Forstleuten mit ihren Zugpferden, um an die auf dem Bilde sichtbare Reiste, von der rechten und linken Seite des Baches, zu kommen. Von noch weiter oben rückten sie dann das Rundholz, von Pferden gezogen, auf Schleipfpfaden zur Rutschbahn, auf welcher die Stämme nachher zu Tale sausten. Aus heutiger Sicht, eine verrückte und gefährliche Arbeit.
Hat man diese Höhenmeter geschafft, merkt jeder Blumenfreund, dass hier oben noch einige unserer botanischen „Leidenschaften“ vorkommen könnten. Nicht lange in Harre für die Korallenwurz (Corallorhiza trifida) oder das Herzblatt (Listera bzw. Neottia cordata). Dem „Lister“ kann ich immer noch nicht wehtun und er bleibt bei mir erste Wahl! Umgeben sind unsere vornehmen Passionen von verschiedenen Wintergrünarten (Pyrola sp.). Behutsam grüssen wir das Heilglöckchen (Cortusa matthioli). Dass hier oben irgendwo der Widerbart (Epipogium aphyllum) blüht, hat im Jahre 2012 Göpf Grimm bestätigt. Die wundersamen Moose und Flechten machen den geheimnisvollen Weg hinauf zur Quelle Funtana Chistagna nur noch reizvoller. Anregend auf eine seltsame Weise, weil alle innere Spannung abfließt. Hier ist alles friedlich, hier hat man den Frieden. Kaum Laute einer möglichen Zivilisation. Nichts von Hektik oder Hast ist zu spüren. Natur pur.
Abb. 17 Korallenwurz, Corallorhiza trifida
Abb. 18 Korallenwurz, Corallorhiza trifida - Val d'Assa
Abb. 19 Kleines Zweiblatt, Listera cordata mit zusätzlichen Blättern
Abb. 20 Kleines Zweiblatt, Listera cordata grünliche Variante
Abb. 21 Pyrola chlorantha, Grünlichblütiges Wintergrün
Abb. 22 Cortusa matthioli, Heilglöckchen - Resgia
Flechten, deren Schönheit das Herz fast zerspringen lassen
Der mit Tannennadeln bedeckte, fast feierlich ausgelegte, ehemalige Schleipfpfad durch God Urezza, dürfte den Holzrückern kaum so feierlich vorgekommen sein. Bis vor wenigen Jahren erinnerte hier ein Pferdestall an jene Zeit „härtester Arbeit für Mensch und Tier“. Vorbei an kleinen Jagdhütten streben wir einer Lichtung zu, die regelmäßig von Lawinen vom Piz S-chalambert her übergossen wird. Hier auf 1550 müM, betreten wir das Naturwaldreservat S-chalambert, seit 1.1.2010 im Inventar. In diesem Umfeld wechseln die Blütenpflanzen des Waldes zu Pionierpflanzen, Lein-, Läuse-, Habichtskräutern sowie Kleearten und vieles andere. Im Kopfe aber haben wir die einzigartigen Krusten-Flechten, die am unteren Rande, zwischen dem God Ars und dem Bach, auftreten (Name soll auf größeren Waldbrand vor langer Zeit hinweisen). Betrachtet man dort die außergewöhnlichen Farbkompositionen der Flechten, die wie gemalt auf den Steinen aufgetragen sind, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Flechtenkundler müssten hier überwältigt sein. Über hunderte von Metern liegen grosse und kleine Steine entlang des Bachbettes, übergossen mit so intensiv-farbigen Krustenflechten, dass einem das Niederknien zum fotografieren nicht müht, die Müdigkeit vergessen macht. In diesen Malereien steckt Meisterschaft. Man kommt ins Grübeln. Wer hat da wohl die Farben ausgelesen, den Pinsel geführt? Kein Mensch, finde ich, könnte eine solche Farbenharmonie ausdenken. Eben, Natur pur!
Abb. 23 Krustenflechten - ein farbenfrohes Spiel
Abb. 24 Krustenflechten - ein farbenfrohes Spiel
Abb. 25 Krustenflechten - ein farbenfrohes Spiel
Abb. 26 Krustenflechten - ein farbenfrohes Spiel
Abb. 27 Krustenflechten - ein farbenfrohes Spiel
Abb. 28 Cladonia macilenta, Becherflechte
Abb. 29 Notbrücke - Ein Übergang nichts für schwache Nerven
Es lockt uns weiter den Berg hinauf. In dieser Gegend ist es wichtig, den Wasserstand des Assa-Baches zu beobachten. Unterhalb der imposanten Quelle, Funtana Chistagna, unserm Tagesziel, ist nämlich rechts ein Engpass im Bachbett, der nur bei niedrigem Wasserstand passiert werden kann. Andernfalls ist es sicherer, etwas weiter unten, über einen notdürftigen Steg den Bach auf die linke Seite zu queren.
Weiter oben, kann dann wieder auf die rechte Seite gewechselt werden. Dort wo sich die beiden Bäche des Val d’Assa und S-chaletta vereinen, bleiben wir dann vorerst auf der rechten Seite talaufwärts. Die Quelle können wir in der Folge nicht verpassen.
Warum Funtana Chistagna?
Abb. 30 Ramosch, Tschanüff, Lischana
(Funtana chi stagna bedeutet:
Quelle, welche stagniert/stockt/staut.
Was motiviert mich, über die Funtana Chistagna zu erzählen? In früheren Geschichten berichtete ich von der Burgruine Tschanüff, die eingangs Val Sinestra über der Brancla und Ramosch thront (siehe „Val Sinestra, das düstere Tal“).
Abb. 31 Burgruine RamoschDort gedeihen ein paar botanische Schätze. Einer davon, der Kugel-Ginster (Genista radiata), auch Strahliger Geissklee, brachte uns Prof. Dr. Thomas Peer, Uni Salzburg näher. Diesen Ginster würde man sonst nur noch im Wallis finden. Duri Könz (Forstingenieur ETH, Vnà, Vorstandsmitglied der Stiftung Tschanüff) machte uns gleichentags auf die Schmutziggelbe Schwertlilie (Iris squalens) einziger Standort in der Schweiz, Armblütige Salzkresse (Hymenolobus pauciflorus), Quendelseide, Bilsenkraut, Blauer Lattich (Lactuca perennis) und Feuerlilien aufmerksam. Diese machen die Kraxelei bei trockenem Boden um die Burgruine im wahrsten Sinne zu einem botanischen Höhenflug. Aber Achtung: Absturzgefahren lauern da und dort.
Ursprung der Sage zur Funtana Chistagna ist eben diese Burg Tschanüff, besser gesagt, es waren der letzte Burgherr und seine Gemahlin. Nachstehend meine erste Begegnung mit dieser spannenden, schaurig-schönen aber auch traurigen Romanze, die trotz allem hin und wieder ein Lächeln zulässt.
Es war im Jahre 1975. Unsere legendäre Caty Vonmoos von Vnà führte meine Familie ins Val d’Assa. Themen unterwegs, neben vielerlei Blumen, waren die Quelle und die Sage um Funtana Chistagna. Für Caty waren Orchideen das Thema schlechthin. Nach mehrstündigem Aufstieg standen wir also auf rund 1830 müM vor dieser geheimnisvollen Quelle, die bis ins Tal hinunter Schauder, Angst und viele Fragen verströmte. Im Wasserfall, der direkt aus der Quelle sprudelt, standen Reste einer primitiv konstruierten Holzleiter aus groben Kloben und Stangenholz. Vermutlich an Ort und Stelle gezimmert. Auf dringlichen Wunsch der uns begleitenden Frauen, durften wir die Höhle nicht erklimmen. Unser Rüstzeug war ungenügend. Geduld: Das musste also warten.
Abb. 32 Höhlenschlunde Funtana Chistagna, Wasserfall ausgetrocknet (Foto Hans Schneebeli)Wie es mit der Höhlenerforschung weiterging und mystische Geschichten über „die Bergfee auf Funtana Chistagna“ steht in der Fortsetzung.
Doch bis dahin noch einige Bilder der schönen Blumen der Gegend.
Abb. 33 Resgia mit Blick auf Ramosch, Nähe Auenwald
Abb. 34 Himmelsleiter oder Sperrkraut, Polemonium coeruleum - Resgia
Abb. 35 Verbascum nigrum, Dunkle Königskerze - Resgia
Abb. 36 Grossblütige Königskerze, Verbascum densiflorum ? - Val Sinestra
Abb. 37 Bilsenkraut, im Burghof Tschanüff und Resgia vorkommend
Abb. 38 Ackerwachtelweizen Albiflora, Melampyrum arvense
Abb. 39 Quendel-Seide, Cuscuta epithymum - Resgia
Abb. 40 Lilium bulbiferum, Feuerlilie - Resgia
Abb. 41 Spinnwebhauswurz
Abb. 42 Gentiana amarella, Bitterer Enzian - Resgia (Foto: Richard Wagner)
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Aktualisiert 22. 07. 2014
