GEO-Tag der Artenvielfalt im Unterengadin
Autor und Fotos: Roland Wüest
Am 27./28. Juni 2014 fand in der Region Scuol unter der Leitung von Angelika Abderhalden, Vorsteherin der Fundaziun Pro Terra Engiadina, Ramosch, ein GEO-Tag der Artenvielfalt statt. Ziel des Projektes war, in unterschiedlichen Fachgruppen innerhalb von 24 Stunden in einer örtlich definierten Feldforschungsaktion Besonderheiten aus der Fauna und Flora kartografisch zu erfassen und, sofern möglich, bildlich zu dokumentieren. Die Ergebnisse, die zurzeit ausgewertet werden, sollen nicht nur dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn für Forschung und Lehre, sondern auch zur Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema “Biodiversität“ und somit dem Anliegen zur Erhaltung der biologischen Artenvielfalt dienen.
Sämtliche Unterkunfts- und Verpflegungskosten der Teilnehmenden wurden von der Fundaziun Pro Terra Engiadina übernommen. Für die sechs Botanikgruppen, zu einer von denen der Berichterstatter gehörte, hatte Joe Meier im Vorfeld alles minutiös organisiert. Der Plan B für Regenwetter durfte ebenfalls nicht fehlen, denn gesamtschweizerisch verhiessen die Prognosen nichts sonderlich Gutes. Einzig für Samstag, den Haupteinsatztag, bestand für das Münstertal und das Unterengadin ein Funken Hoffnung auf längere trockene Abschnitte.
Am Freitagabend, 27. Juni, trafen Edith, mein Vater und ich gegen 20 Uhr im Hotel Val d’Uina in Sur En ein, wo uns Joe herzlich willkommen hiess. Besonders freuten wir uns über die hier vorherrschende trockene Witterung, was unterwegs gar nicht immer der Fall gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt standen jene Teams, die sich mit dämmerungs- und nachtaktiven Tieren (Nachtfaltern, Eulen, Fledermäusen, Karnivoren usw.) befassten, bereits in den Startlöchern.
Nach leckerem Nachtessen orientierte Joe die sechs Botanikgruppen über den Samstagseinsatz und rüstete sie mit dem entsprechenden Arbeitsmaterial aus. Wir drei bekamen die "orchideologisch" vielversprechenden Feuchtgebiete Medras, Chantata, Runai und Martinatsch oberhalb Ramosch (neu zur politischen Gemeinde Valsot gehörend) zugeteilt. Vor der Nachtruhe besprach sich Joe nochmals mit jeder Gruppe und machte sie auf die zu erwartenden Highlights in den entsprechenden Territorien aufmerksam und dann ab in die Federn!
Feuchtbiotop Medras auf 1560-1600 müMAls ich am frühen Morgen aus dem Fenster schaute, keimte in mir Zuversicht auf, dass dieser mit Spannung erwartete Samstag auch wettermässig was werden könnte, denn nur ein paar harmlose Morgennebelschwaden umhüllten die Szenerie. Ansonsten zeigte sich der Unterengadiner Himmel wolkenfrei und die Sonne kitzelte bereits die höchsten Berggipfel.
Während des Morgenessens kam Projektleiterin Angelika Abderhalden vorbei und überreichte uns die Feldforschungs- und Fahrbewilligungen. Vor dem Hotel noch kurz die Lunchsäcke fassen und auf ging’s!
Kurz nach 7 Uhr fuhren Edith, mein Vater und ich in den uns übertragenen Sektor oberhalb Ramosch und erreichten alsbald auf knapp 1600 m Meereshöhe im angenehmen, motivierenden Morgensonnenlicht das Hangmoor Medras, unser erstes zu erforschendes Biotop.
Dactylorhiza incarnata - Fleischrote Fingerwurz
Dactylorhiza majalis - Breitblättrige Fingerwurz
Dactylorhiza incarnata x majalis = Dactylorhiza x aschersoniana
In den mit Wollgras übersäten Nasswiesen fielen uns schnell dunkelrot leuchtende Dactylorhiza-Orchideen auf. Die Hybriden Dact. incarnata x majalis waren schier zahlreicher vertreten als die reinen Arten.
Ferner beobachteten wir hier Dactylorhiza fuchsii (Fuchs‘ Fingerwurz) mit Dact. majalis-Hybriden, je beide Gymnadenia- und Platanthera-Arten (Mücken- und Wohlriechende Handwurz sowie Zweiblättrige und Grüne Waldhyazinthe), Listera ovata (Grosses Zweiblatt), knospende Epipactis palustris (Sumpf-Stendelwurz) und – was uns besonders beeindruckte – im obersten Teil wenige Exemplare der Dactylorhiza incarnata Unterart „pulchella“.
Platanthera bifolia - Zweiblättrige Waldhyazinthe
Platanthera bifolia - Zweiblättrige Waldhyazinthe
Platanthera chlorantha - Grüne Waldhyazinthe
Platanthera chlorantha - Grüne Waldhyazinthe
Dactylorhiza incarnata ssp. pulchella
Dactylorhiza incarnata ssp. pulchellaDie Pflanzen der Unterart „pulchella“unterscheiden sich von der klassischen Fleischroten Fingerwurz durch ihren deutlich schlankeren und niedrigeren Wuchs, ihre schmaleren, steiler aufwärtsgerichteten Laubblätter, ihre klar kürzere, aber farbintensivere Infloreszenz, ihre kleineren Blüten sowie ihre drei bis vier Wochen spätere Blütezeit.
Decticus verrucivorus - WarzenbeisserDas Tierreich beglückte uns mit einem Feldhasen und drei Warzenbeissern (Langfühler-Heuschrecken).
Dactylorhiza fuchsii x incarnata = Dactylorhiza x kerneriorum
Dactylorhiza fuchsii x incarnata = Dactylorhiza x kerneriorumWir verschoben uns ein paar hundert Meter südwestlich zum Flurnamen Chantata. Neben weiteren Sumpfwiesen trifft man in diesem Gelände auch auf sonnenexponierte Trockenhänge, wo wir gewisse Pflanzen wie zum Beispiel Nigritella rhellicani (Gewöhnliches Männertreu) oder Pseudorchis albida (Weisse Höswurz) in teilweise vertrocknetem Zustand vorfanden. Den Höhepunkt in diesem Abschnitt bildete ein feuchtes Weidenwäldchen, das zahlreiche Dactylorhiza fuchsii und Dactylorhiza incarnata (Fuchs‘ und Fleischrote Fingerwurz) mit prächtigen Hybriden beherbergte.
Gymnadenia conopsea - Mücken-Handwurz (mit Albino)
Gymnadenia odoratissima - Wohlriechende Handwurz
Gymnadenia conopsea x odoratissima = Gymnadenia x intermediaIm angrenzenden Runai besuchten wir zuerst ein Flachmoor, in dem die drei zuvor kartierten Fingerwurz-Spezies ebenfalls vorkommen. Eine steil gegen Süden geneigte Alpenmatte war mit intakten Nigritella rhellicani (Gewöhnliches Männertreu) und Dutzenden von Gymnadenia conopsea und Gymn. odoratissima (Mücken- und Wohlriechende Handwurz) durchsetzt und mittendrin stand ein kräftiger frisch aufblühender Hybrid Gymnadenia conopsea x odoratissima = Gymnadenia x intermedia . Mmm, die feinen Schokolade-Vanille-Duftnoten hätten süchtig machen können!
Oben auf der Forststrasse begegneten wir Göpf Grimm und Jean Claessens. Die beiden hatten bisher eine Etage höher im Bereich Palü Lunga botanisiert. Nach kurzem Gedankenaustausch setzten beide Teams ihre spannende Arbeit fort.
Dactylorhiza majalis f. albiflora
Cypripedium calceolus - FrauenschuhEin weiteres Hangmoor weckte unsere Aufmerksamkeit mit einem Massenbestand an Dactylorhiza majalis (Breitblättrige Fingerwurz). Bei genauerem Hingucken erfreuten wir uns überdies zweier Dactylorhiza majalis forma albiflora (weissliche Farbvariante) sowie einer zusätzlichen taufrischen Dactylorhiza incarnata ssp. pulchella (Unterart pulchella der Fleischroten Fingerwurz).
Auf der benachbarten Bergwiese machte Edith jäh auf sich aufmerksam: Sie stand vor einer fotogenen Orchis ustulata (Brand-Knabenkraut) und zeigte auf einen noch immer blühenden Cypripedium calceolus-Stock (Frauenschuh) unter einem schattenspendenden Föhrenhain.
Nach diesem jüngsten Erfolgserlebnis übermannten uns Durst- und Hungergefühle. Zurück bei unserem parkierten Auto, setzten wir uns ins Gras und genossen den wirklich gut gemeinten, ausgiebigen Lunch.
Feuchtbiotop Martinatsch, 1670-1760 müMIn der zweiten Tageshälfte hatten wir noch das letzte, aber grossflächigste Teilstück unter die Lupe zu nehmen: das Gebiet Martinatsch (Bild 19). Joe hatte uns im Vorfeld auf die dort gedeihende Ophrys insectifera (Fliegen-Ragwurz) sensibilisiert.
Kaum dem Fahrzeug entstiegen, fielen uns in der bergseitigen Forststrassenböschung eigenartige rund 40 cm hohe Pfosten auf. Als wir uns am Abend diesbezüglich erkundigten, wurde uns mitgeteilt, es bestehe für diese Forststrasse ein Ausbauplan. Diese Information traf uns wie ein Hammerschlag und versteinerte unsere Mienen. Es kann und darf nicht sein, dass eine derart hochkarätige Naturlandschaft durch zusätzlichen Strassenbau vorerst verschandelt wird, um später der intensivierten Landwirtschaft zum Opfer zu fallen. Zu einem anderen Zweck können wir uns diesen Plan nicht vorstellen. Sollte dieses Vorhaben Tatsache werden, schnitte sich das touristische Engadin ins eigene Fleisch, indem es einen eidgenössisch äusserst kostbaren Lebensraum für eine Vielzahl von Tieren und Pflanzen zerstören und dadurch eine bedeutende Tourismusquelle versiegen würde. Noch ist es nicht so weit! –
Gentiana germanica ssp. rhaetica - Rhätischer Enzian
Dactylorhiza incarnata mit Alpen-Widderchen
Kaum im Biotop angelangt, erwartete uns eine freudige Überraschung: In der trockenen Strassenböschung begrüsste uns ein beachtlicher Bestand aufblühender Gentiana germanica ssp. rhaetica (Rhätischer Enzian) Diese Seltenheit machte Lust auf mehr. Im nahe gelegenen lichten Föhren-Lärchen-Wald hielten wir nach Ophrys insectifera (Fliegen-Ragwurz) Ausschau, sichteten jedoch nichts dergleichen. Wir begaben uns in den feuchteren Teil und begegneten weiteren Dactylorhiza incarnata (Fleischrote Fingerwurz). Auf einer sass ein Alpen-Widderchen, das eine willkommene illustre Zugabe ermöglichte.
Mittlerweile war es mehr als 15 Uhr geworden. Um die auf 17:00 Uhr angesetzte Schlussveranstaltung im Schulhaus von Scuol nicht zu verpassen, mussten wir uns etwas einfallen lassen. Damit wir schneller vorwärtskamen, entschieden wir uns, den oberen Teil von Martinatsch getrennt zu durchkämmen.
Dactylorhiza incarnata var. haematodes
Epipactis palustris - Sumpf-Stendelwurz (knospend) auf 1692 m! Der Schreiber übernahm den westlichsten Teil bis zum höchsten Punkt hinauf. Mitten im Wollgras stiess ich auf zwei imposante dicht nebeneinander stehende Dactylorhiza incarnata (Fleischrote Fingerwurz), die ich aufgrund empfundener Attraktivität trotz Zeitknappheit fotografierte. [Erst zu Hause realisierte ich, dass diese beiden Individuen oberseitig gefleckte Laubblätter aufwiesen und es sich folglich um die seltene Varietät „haematodes“ handelte.]
Mein Höhenmesser zeigte 1692 m an, als ich im Hangmoor eine kleinere Population knospender Epipactis palustris (Sumpf-Stendelwurz) entdeckte. Dies bedeutet für die Schweiz zwar keinen Höhenrekord (er liegt für diese Orchidee bei 1770 m), ist aber dennoch beachtlich (Bild 23).
Gymnadenia conopsea x Nigritella rhellicani = x Gymnigritella suaveolens
Dactylorhiza lapponica - Lappländische Fingerwurz
Zuoberst auf 1760 m vermerkte ich noch ein paar Gymnadenia conopsea (Mücken-Handwurz) und Nigritella rhellicani (Gewöhnliches Männertreu) im selben Habitat und dazwischen eine riesige Kreuzung (x Gymnigritella suaveolens), deren Infloreszenz rund 7 cm lang war. An einer feuchteren Stelle erkannte ich wenige abblühende Dactylorhiza lapponica (Lappländische Fingerwurz). Zu meinem Glück präsentierte sich ein Exemplar noch richtig fotogen.
Etwa 40 Höhenmeter unter mir hatten Edith und mein Vater bereits den Rückweg angetreten. Als ich sie einholte, berichteten die beiden, sie hätten ausser einer Rehgeiss keine Neuigkeiten mehr gesichtet.
Ophrys insectifera - Fliegen-Ragwurz
In der Zwischenzeit war ein starker, störender Nordwestwind aufgezogen. Auf einer von Lärchen umgebenen Fläche sah ich aus der Distanz ein Feld mit Gymnadenia conopsea. Ich spurtete hin und stellte begeistert fest, dass sich unter dieser Mücken-Handwurz-Population auch ein paar stattliche Ophrys insectifera (Fliegen-Ragwurz) gemischt haben. Die windabschirmenden Nadelbäume halfen mir, im Affenzahn das eine oder andere brauchbare Foto zu schiessen.
Beim Auto angekommen, übertrugen wir die erfreulichen Kartierungsdaten von Martinatsch im Eilzugstempo ins Reine, löschten den grössten Durst, wechselten die Tenues, fuhren rasant nach Scuol hinunter und trafen gerade noch rechtzeitig zur Schlussveranstaltung im Schulhaus ein.
Der Scuoler Tourismusdirektor würdigte diesen wertvollen Grossanlass mit einer lobenden Rede und liess danach Expertinnen und Experten der einzelnen Materien zu Wort kommen.
Bei den Botanikgruppen stellte Göpf Grimm das Kartierungssystem vor, Prof. Thomas Peer referierte über die in der Schweiz sehr seltene Genista radiata (Kugelginster), die er auf dem Burgruinenhügel Tschanüff oberhalb Ramosch seit mehreren Jahren beobachtet, und Buchautor Jean Claessens zeigte in einem Kurzvortrag sämtliche Epipactis-Arten der Schweiz.
Beim Mykologie-Team erkannte ich die Berner Pilzforscherin Beatrice Senn wieder, die vor sechs Jahren in der Fernsehsendung Einstein unter anderem vom Tintenfischpilz berichtet hatte.
Im Foyer wartete anschliessend ein reichhaltiges Apéro-Buffet mit Brot, Anken, Käse, Trockenfleisch, Gemüse, Früchten, Kuchen und Getränken auf uns. Beim Genuss dieser Bündner Spezialitäten entwickelten sich interessante Gespräche.
Im Hotel Val d’Uina hätte uns die Fundaziun Pro Terra Engiadina nochmals ein vollständiges Nachtessen offeriert. Aus Sättigungsgründen beliess es unsere Gruppe bei einem Dessert und überspielte später die Bilder des erfolgreichen Tages zur Auswertung auf Joe Meiers Laptop. Mit grosser Genugtuung gönnten wir uns danach ein paar Stunden wohlverdienten Schlaf.
Erst während des Frühstücks am Sonntagmorgen setzte aus Nordwesten der längst angekündigte Regen ein. Unsere insgeheimen Träume, auf der Heimfahrt sogar noch gewisse Dactylorhiza cruenta-Standorte (Blutrote Fingerwurz) besuchen zu können, wurden somit im Keime erstickt. Doch wir schätzten uns überglücklich, dass Petrus am Haupteinsatztag für unsere Arbeit ein Einsehen gehabt und für ideale Bedingungen gesorgt hatte.
Der Fundaziun Pro Terra Engiadina entbiete ich im Namen aller Teilgenommenen für die Organisation und Durchführung dieses spektakulären GEO-Tages sowie die grosszügige Übernahme der Unterkunfts- und Verpflegungskosten ein herzliches Dankeschön. Besonders hervorheben möchte ich Joe Meier, der mit seinem unermüdlichen Engagement die sechs Botanikgruppen erstklassig unterstützte.
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Aktualisiert 02. 12. 2014
