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Orchideen wachsen auf den Quadratmeter genau

Autor und Fotos: Christian Gnägi

Kein Kummer, hier folgt kein technischer Artikel über das neu­este GPS. Aber Orchideen müssen sich manchmal ihren Platz auf den Quadratmeter genau aussuchen, wollen sie erfolgreich wachsen - Jedenfalls im Berner Mittelland. Dann müssen wir also genau wissen, wo dies sein könnte, um sie zu finden. Im Berner Mittelland kann man nicht auf der 25'000er Karte schauen, wo es Orchideenbiotope haben könnte, und dann sind sie dort auch. Glaubt man den Verbreitungskarten der AGEO, dann ist diese Gegend bei den meisten Orchideen­ar­ten ein weisser Fleck. Es hat also gar keine – doch der Schein trügt. Es hat mehr Orchideen als man denkt, doch sind sie so selten, dass es absolut unattraktiv ist, dort zu kartieren. Weisse Flecken sind also vielleicht nur so etwas wie Tarn­kap­pen, um Kartierer abzuschrecken...

Die meisten Bewohner des westlichen Mittellands haben in ihrer Gemeinde noch nie eine wildwachsende Orchidee gesehen. Meistens wissen nicht einmal die Landwirte, ob es auf ihrem Land Orchideen hat. Kein Wun­der, denn im Wald der Gemeinde Ochlenberg z.B., einer klei­nen Gemeinde im Oberaargau, kommt auf eine Flä­che von 44 Fussballfeldern (22 ha) gerade mal 1 Orchideen­standort, der zudem vielleicht auch nur aus einer einzigen Orchidee besteht. Würde man die landwirtschaftliche Nutz­fläche dazurechnen, sähe es noch viel extremer aus. Im Ber­ner Mittelland liegen mehr als 90 % der Orchideen­standorte im Wald. Ausserhalb des Waldes fanden sich bei den bisher voll­ständig kartierten Gemeinden im Schnitt nicht mehr als 1–2 Standorte – Aus­nahmen gibt's in Natur­schutz­gebieten. Neben dem Lebens­raumverlust liegt dies an den sauren Böden. Von den 75 Orchideenarten der Schweiz wollen 65 neutrale bis ba­sische Böden (Reaktionszahl 3–5 nach Landolt), also für Ber­ner Ver­hältnisse viel Kalk (Dolomit haben wir fast keinen). Es scheint, dass der Säuregrad für viele Orchideen der am meis­ten limitie­rende Faktor ist und z.B. Biotopansprüche oft viel weniger eng sind. Eindrücklich wurde mir dies bewusst, als ich im Gastern­tal auf 1900m einen Frauenschuh im Schutt eines noch kaum bewachsenen Moränenwalles fand – weit und breit kein Auen­wald (s.a. Bild 2).

Der Kalkgehalt natürlicher Böden

Alter Boden, Foto Christian GnägiBild 1: An der 5 m-Messlatte ist er­sichtlich, dass in dieser Bau­grube bei Aarwangen, die eiszeitlichen Schmelz­wasserablagerungen bereits fast 4 m tief entkalkt sind. Wenn ich hier vom Berner Mittelland spreche, so meine ich das ganze Molassebecken, also das Gebiet zwischen den Kalkgesteinen des Juras und der Voralpen. Die Molasse ist der Schutt der Alpen, den vor Urzeiten Flüsse abgetragen haben und der selbst schon wieder zu Gestein geworden ist. Ein Bo­den widerspiegelt in seiner Zusammensetzung anfänglich das darunter liegende Gestein, aus dem er entstanden ist. Im Ber­ner Mittelland enthalten ausser der Süsswasser-Molasse des Emmentals und vorgelagerten Molasse­hügel­lands (ehe­maliger Napf-Schuttfächer) alle genügend Kalk für Orchideen. Aber mit der Zeit versauern Böden durch den natürlichen Ver­witte­rungsprozess immer tief­er hinunter. Besonders schnell verläuft dieser Prozess auf noch nicht zu Fels verfestigten Ab­lager­un­gen, das ist Lockergestein. Dazu gehört z.B. alles, was uns Flüsse und Gletscher hinterlassen haben (Bild 1).

Dadurch wird es nun so richtig spannend, jedenfalls für die, die sich gerne herausfordern lassen. Im Berner Mittelland ist Orchideensuche noch Schatzsuche für Detektive – «Geo­caching» der besonderen Art. Wo in diesem Säuremeer hat es denn trotzdem Kalk? Die Orchideen zeigen es, auf den Meter genau, wenn's sein muss.

 

Junge Böden

Frauenschuh, Foto Christian GnägiBild 2: Im ehemaligen Auenwald ent­lang der Alten Aare hat es sogar noch ab und zu einen Frauenschuh. Der hohe Kalk­gehalt dieser jungen Kiesböden zeigt sich darin, dass die Orchideen nicht nur ent­lang der Waldstrassen, son­dern auch in der freien Waldfläche vor­kommen. Frisch geschüttete Böden enthalten noch viel Kalk. Dazu gehö­ren die neuzeitlichen Flussablagerungen. Unsere Flüsse ent­springen im Jura und den Voralpen und bringen von dort Kalk mit. Deshalb sind die Kiesebenen der Aare, Saane und Sense gut für Orchideen, entlang der Emme etwas weniger, denn sie fliesst vor allem durch den Napf-Schuttfächer (Bild 2). Auch Moränenwälle der Rückzugsstadien der letzten Vergletsche­rung sind wegen ihrer Zusammensetzung aus grobem Schutt oft noch recht kalkhaltig.

Unter dem sauren Boden liegt kalkhaltiger Boden

Alle Böden werden mit dem Alter sauer, nur geht's bei denen, die von Anfang an wenig Kalk enthielten, schneller. Aber in ei­nigen Metern Tiefe kommt dann auf guten Gesteinen wieder kalkhaltiger Boden. Nun gibt es Standorte, wo der saure Bo­den oberflächlich weg ist, bzw. der Boden tief angeschnitten wurde, sei es natürlich durch Abschwemmung oder durch Ab­bau bzw. Bautätigkeit wie:

– tiefe Bacheinschnitte (Glasgrabe im Bremgartenwald)

– hohe Strassenböschungen (Strasse Wynigen-Rüedisbach)

– Kuppenlagen (Heidetewald in Seeberg)

– Steilhänge (Hohburg am Belpberg)

–Kiesgruben und Steinbrüche (Linde Ochlenberg).

 

Sekundär aufgekalkte Böden

Weisse Vogelnestwurz, Foto Christian GnägiBild 3: Im Mäderforst (Gemeinde Mühleberg) wirkt die Grundmoräne als Wasserstauer. Der reine Fichtenbestand ist von lauter Wasser­abzugsgräben durchzogen. Das hoch­stehende Grund­wasser versorgt die Vogelnestwurz (hier die weisse Varietät) mit Kalk. Stendelwurz im Asphalt, Foto Christian GnägiBild 4: Manchmal genügt auch weniger als ein Quadrat­meter, hier gerade mal 10x10cm. Woher wusste die Stendel­wurz, dass unter dem Asphalt ein Kalk­schotterbett ist? Sickerwasser nimmt Kalk aus tieferen Bodenschichten auf. Wenn es auf einen Wasserstauer trifft und an einem Hang austritt (Hangdruck), wird der Boden dort wieder neu mit Kalk versorgt, auch wenn dieser bereits sauer war (Bild 3).

Entlang von mit Kalkschotter belegten Strassen, werden die Steinchen von den Rädern der Fahrzeuge weggespickt. Wo sie hinfallen, werden sie durch den sauren Regen angelöst und es entsteht ein aufgekalkter Randstreifen. Dies ist ver­breitet bei Waldstrassen der Fall, auch bei solchen, die heute geteert sind (Bild 4). Beim Ausschaufeln des Strassengrabens wurde der Kies auf die Böschungen geworfen. Dadurch hat es auf und hinter solchen Böschungen ebenfalls Orchideen. Alleine im Forst, einem grossen Wald im Westen von Bern, haben wir diesen Sommer 150 Orchideenstandorte gefunden – der allergrösste Teil entlang der vielen Waldstrassen.

 

Spezialstandorte durch Bautätigkeit

Wo immer der Mensch baut, wird Boden durcheinander­gemischt. Aufschüttungen bestehen oft aus kalkhaltigem Schotter der Kiesgruben. Dies gilt besonders für Trassees von Bahnen und grossen Strassen. Da werden im grossen Stil Schotter geschüttet, speziell bei Kunstbauten wie Dämmen und Überführungen. Aber auch bei andern Bauten können neue Orchideenpotentiale entstehen, bekannt sind Flach­dächer und Friedhöfe (Bilder 5 - 8).

Epipactis purpurata am Grenzstein, Foto Christian GnägiBild 5: In einem versauerten Mo­ränen­hang steht ein grosser Grenzstein aus Jura­kalk, der vermutlich noch mit kalkhaltigem Be­ton fundiert wurde. Durch den sauren Regen wird Kalk abgewaschen und in einem kleinen Umkreis wieder ausge­schieden. Die Violette Stendel­wurz hat's gemerkt. Cephalanthera damasonium auf Treppe mit Jurakalk, Foto Christian GnägiBild 6: Ebenfalls in einem ver­sauerten Moränen­hang auf Süsswasser-Molasse des Napf-Schuttfächers wurde ein schmaler Wan­der­weg mittels Holz­schwellen saniert. Für eine bessere Rutsch­fest­igkeit wurden die Tritt­flä­chen teilweise mit Jura­grien bestreut. Prompt fand sich das Weisse (Bleiche) Waldvögelein ein. Epipactis atrorubens auf Steinhaufen im Moränenwald, Foto Christian GnägiBild 7: Ein Waldbesitzer hat hier auf einem orchideenfreien Moräneboden einen Steinhaufen deponiert, den er wohl als Koffer in den Waldweg einarbeiten wollte. Mit der Zeit ging das Anliegen vergessen. Doch die Braunrote Stendelwurz zeigt, dass es in diesem Haufen Kalksteine hat... Cephalanthera rubra auf Gitterkorb mit Kalkschotter, Foto Christian GnägiBild 8: Diesem Roten Waldvögelein genügt der Kalkschotter in den Gitterkörben, die die Strassenmauer ersetzen, die sauren Fichtennadeln sind ihm egal und Waldboden braucht's auch nicht.

 

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Aktualisiert 02. 12. 2014

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