Val Sinestra - das düstere Tal
Autor und Fotos: Joe Meier
Das Val Sinestra liegt am Fusse des Piz Arinas, dem Blumenberg des Unterengadins schlechthin. Er gehört zu den Landschaften von nationaler Bedeutung und wurde 1983 in das Bundesinventar der Schweiz aufgenommen. So werden wir kaum überrascht sein, viele botanische Seltenheiten zu entdecken, den Steinadler kreisend über den Murmeltierhöhlen zu beobachten oder den Bartgeier auf Nahrungssuche zu verfolgen. Nicht selten sehen wir eine Rehgeiss mit ihrem Kitz am Waldrand.
Welche Route durchs Val Sinestra ist wohl die schönste, interessanteste? Man hat tatsächlich die Qual der Wahl. Es ist wohl das Beste, ein paar Tage zu planen, damit man das vielfältige Tal von verschiedenen Ausgangsorten in Angriff nehmen kann. Denn, sowohl Vnà, Ramosch ostseitig und Sent westseitig der Brancla, sind reizvolle Einstiegsorte. Vermag man sich zeitlich nicht festzulegen, wie lange man im Tal verweilen will, haben alle Routen den Vorteil, dass man die Wanderung fast nach Lust und Laune abkürzen bzw. verlängern kann. Eine vortreffliche Übersicht, botanisch und geologisch, bekommt man, wenn der Einstieg oberhalb Ramosch geschieht.
Es ist Mitte Juni. Die Burgruine Tschanüff verabschiedet uns in die gemächliche Traverse des Val Sinestra. Bevor wir auf den Trampelpfad einschwenken, bestaunen wir den dort häufig vorkommenden Ackerwachtelweizen. Dann auf den ersten Metern entlang des Weges fallen uns der Blaue Lattich und wenig später der Rundblättrige Hauhechel auf. Die beiden Schönheiten sind typische Bewohner im Raume Ramosch. Die Ruhe auf dem Weg ist Labsal für die Seele, weit unten im Tal rauscht ganz leise die Brancla durch die Schlucht. Zusammen mit den ersten Orchideen am Weg, der Vogelnestwurz, gefallen uns die vielen Meieriesli. Ihr Duft ist wunderbar. Und gleich danach leuchten Weisse Waldhyazinthen vom steilen Bord zu uns herunter. An lichteren Stellen sehen wir reihenweise knospige Fuchs Fingerwurz – sie blühen in wenigen Wochen zu Hunderten in allen Farbnuancen. Ihren Namen verdankt sie Leonhard Fuchs (1501-1566) Arzt und Botaniker, dem Vater der Deutschen Pflanzenkunde. Er hat vielen Pflanzen ihre Namen gegeben, und für seine herausragenden Arbeiten wurde er gar geadelt.
Wald und lichte Stellen wechseln sich ab. Die grosse Pflanzenvielfalt an den verschiedenen Standorten fällt auf, die verschiedenen Gesteine tragen das ihrige bei. Höchst interessante, überhängende Gesteinsformation lassen uns gar erschaudern. Und kurz darauf wähnt man sich in einem Paradiesgarten. Wald und offenes Gelände wechseln sich ab. Feuchtstandorte präsentieren sich mit ihren Spezialisten, Trockenstandorte zeigen ihre Schätze. Es ist ein Summen und Schwirren in der Luft. Eine Abbruchstelle wird über Treppen begangen, fast hätten wir die ersten Exemplare der Fliegen-Ragwurz und Grünen Waldhyazinthe übersehen. Immer wieder zeigen sie sich, gar mitten im Weglein. Haben wir einen warmen Tag gewählt, lohnt es sich neben der Insektenorchidee sitzen zu bleiben. Vielleicht bekommt sie just dann Besuch von einer Grabwespe, ihrem klassischen Bestäuber. Faszinierend zu betrachten, mit welcher Ausdauer das winzige Insekt die Kopulation versucht – vergebliche Mühe zwar – doch mit dem Nutzen für die Orchidee, dass sie bei diesem Akt bestäubt wird.
Weiter hinten im Tal, man kann aus der Ferne das Hotel Val Sinestra ausmachen, begegnen uns an dunkleren, feuchten Stellen, die Rundblättrigen Wintergrün, die manchmal wie Teppiche ausgelegt sind. Hie und da zeigt sich eine kleine Gruppe Korallenwurze. Zwar noch nicht blühend, stehen knospige Türkenbunde und die Alpenscharte am Wegrand und in den steilen Hängen. Unser Weg nähert sich dem Ufer der Brancla. Neben der Brücke, unterhalb des Hotels Val Sinestra legen wir eine Rast ein. Der Bach kann hier ohrenbetäubend sein. Am andern Bachufer läuft gelbes Wasser aus den Mauern. Es sind Ausläufe der 1962/3 durch eine Lawine zugeschütteten Mineralwasserquelle. Das Schwefelwasser färbt Mauern und Steine am Ufer. Für viele Jahrzehnte war dieses Wasser hoch begehrt und galt als Jungbrunnen für viele Generationen. Dem arsenhaltigen Eisensäuerling sagte man „Aua forta“. Was soviel heisst wie „starkes Wasser“. Im Hotel Val Sinestra haben sich bis in die 1960-Jahre Menschen aus der ganzen Welt kurieren lassen. Der Blick in den Hang hinter dem Hotel lohnt sich. Frauenschuhe und Herzblatt blühen üppig. Als uns dort im August 2008 ein Widerbart von 38 cm Höhe vor die Linse trat, waren wir völlig aus dem Häuschen. Ob sich das wohl wiederholen lässt?
Wir haben im Aufstieg gehört, dass die Frauenschuhe in Richtung Zuort üppig blühen. Nichts hält uns zurück und so geht’s bald wieder aufwärts. Vorbei an grossen Beständen des Rundblättrigen Wintergrüns und wunderschönen Alpenreben. Letztere hängen zu Hunderten wie Christbaumschmuck an kleineren und grösseren Büschen und Bäumen. Viele Ah’s und Oh’s sind in der Wandergruppe zu hören. Wir folgen dem Wegweiser Zuort. Die Venuspantöffeli – Frauenschuhe - fallen uns bald einmal auf – sie stehen in kleinen und grösseren Gruppen im lichten Wald. Man kann sich kaum satt sehen. Manche haben im sehr steilen Gelände so gute Standorte gewählt, dass es stundenlange Kraxlerei und Ausdauer kosten würde, sie alle zu besuchen und zu bestaunen. Wer aufmerksam ist, wird nicht nur den Goldschuh unter der grossen Auswahl entdecken können, sondern auch die Variation Cypripedium calceolus var. citrinum (gescheckter Frauenschuh). Wir sind mit dem zufrieden, was direkt am Wege blüht. Es ist nicht wenig.
Zufrieden kommen wir im Hof Zuort an. Nicht selten begegnen uns Blumenfreunde mit der Frage: „Habt ihr sie auch gesehen?“ In diesem Tal geht es den meisten Menschen nur um den Frauenschuh. Aber da stehen noch viele andere botanischen Schätze im Tal. Weil sie aber klein, unscheinbar in Farbe und Gestalt sind, werden sie nicht beachtet. So haben wir auf dem Wege an kleinen Bächlein zahlreiche Heilglöckchen liebevoll beäugt. Freude bereitete uns an nassen Standorten das Gemeine und Alpen Fettblatt. Kleine Insekten haben sich auf ihre fleischig-klebrigen Blätter verirrt und werden dort verspeist. Fliegen-Ragwurze sind ständige Begleiter; sie werden von den meisten Leuten gar nicht beachtet. Kurz vor dem Hof Zuort sind die Erdpyramiden – die Cluchers – ein Muss für geologisch Interessierte. Kurz vor dem Restaurant, am Wiesenrand und gar auf dem Fahrweg überraschen uns Blutrote Fingerwurze (Dactylorhiza cruenta). Fleischrote und Breitblättrige Fingerwurze zieren die wunderschöne Blumenwiese, die neben Feucht- auch Trockenstandorte hat. In ein paar Wochen blühen hier Hunderte Mückenhandwurz. Beeindruckt von so viel Schönem, kehren wir im Bergrestaurant Zuort auf 1711 m.ü.M. ein. Gerstensuppe und Bünderfleisch sind fast obligatorisch.
Nachher geht es in Richtung Griosch weiter. Kurz oberhalb Zuort leuchtet im Waldbord das Rote Waldvögelein und unzählige Waldstorchenschnabel zu uns herunter. Unterhalb Griosch queren wir über eine Brücke die Aua Chöglias und dann ein sehr interessantes Nassgebiet. Im Umfeld ist die Grüne Hohlzunge selten allein. Viele unbekannte Pflanzen ziehen uns in ihren Bann – innerlich schreien wir um Hilfe. Ist da jemand, der ihre Namen kennt? Bald wechseln sich Alpenrebe und Heilglöckchen gegenseitig ab. Und sind wir aufmerksam genug, ist es nicht unmöglich, dass uns ein verirrtes Edelweiss im steinigen Weg neben dem Bach begrüsst. Dieser heisst nun Tiatscha. Unmerklich haben wir unterhalb Zuort das Val Sinestra verlassen und sind in ein Nebental der Aua Chöglias geraten. Zwar noch nicht sichtbar, aber über uns liegt hinter Bäumen und Borden der Weiler Griosch mit seinen sieben Häusern. Letztere, es sind Maiensäss, werden meist als Wochenend- oder Ferienhäuser von Einheimischen benützt. In einer Besenbeiz kehren wir ein und lassen uns mit feinsten einheimischen Spezialitäten verwöhnen. Von hier aus könnten wir über den Fimberpass in die Heidelbergerhütte weiterwandern.
Griosch ist ungefähr sechs Kilometer von Vnà entfernt. Es ist Zeit, den Rückweg über Pra San Peder anzutreten. Es erwarten uns Blumenwiesen der ganz besonderen Art. Die Alpstrasse ist links und rechts mit einem Blumenteppich geschmückt. Die Artenvielfalt in den Wiesenborden ist bemerkenswert. Sie wird uns mehrere Kilometer botanisch herausfordern. Wir sind immer noch in Sichtweite von Griosch. Unmittelbar am Strassenrand treffen wir zuerst ganze Horste der Wachsblume, dann Prachtexemplare von Straussblütigen Glockenblumen. An Trockenstandorten sind sie begleitet von Hunderten von Handwurz und Steinnelken. An feuchten Stellen stehen Fleischfarbige und Breitblättrige Fingerwurz. Goldpipau, Esparsetten, verschieden Kleearten und Korbblütler machen die Wiesenborde zu einer Augenweide. An schattigeren Plätzen sind die Alpen- und die Schwefel-Anemone häufig nebeneinander zu sehen. Daneben stehen auch die Wachsblumen, die Trollblume sticht aus dem satten Grün heraus und wiegt im Winde. Bei soviel Farbe und Abwechslung könnten wir die Orchideen fast verpassen. Mit etwas Aufmerksamkeit merken wir bald, dass sie uns auf Schritt und Tritt begleiten. Die Grüne Hohlzunge, das Rote Männertreu und knospige Schwarze Männertreu zeigen sich uns neben der Grünen Waldhyazinthe. Das Grosse Zweiblatt fehlt so wenig wie die Fliegen-Ragwurz, die Fuchsfingerwurz und das Angebrannte Knabenkraut. An Bachläufen freuen wir uns am Heilglöckchen sowie am Alpen und Gemeinen Fettblatt. Verschiedene Wintergrünarten zieren dunklere und feuchte Stellen. Und immer wieder Straussblütige Glockenblumen und andere Schönheiten an Trockenborden. Der Westhang des Piz Arina macht seinem Ruf alle Ehre.
Trotz allem Schönen, es gibt entlang dieser einst einmaligen Blumenstrasse Wermutstropfen zu verkraften. Seit einigen Jahren werden die strassennahen Wiesen extrem gegüllt. Diese Düngungen lassen die herrlichen Blumenwiesen leider, kontinuierlich, verschwinden. Wenn auf Pra San Peder zwischen 1830 und 1900 m.ü.M. Siloballen liegen, kann man sich vorstellen, was man diesen Wiesen angetan hat.
Auch wenn wir mittlerweile - zwar schon ziemlich müde - einen halben Kilometer vor Vnà sind, hält uns nichts zurück, die Otà Promenada ob Vnà als Dessert zu begehen. Der Rundweg um Vnà ist etwa einen Kilometer lang. Was sich da an Orchideen aneinander reiht, muss man schon selbst erlebt haben. Man möge diesen Trampelpfad aus verschiedenen Gründen mit Bedacht begehen. Einmal sind auf dem Weg – versteckt unter Gras - immer wieder Weinberg-Schnecken, die es zu schonen gilt, dann auch die zahlreichen Orchideen, die ihren Platz inmitten des Pfades ausgesucht haben. Weicht man aus, zertritt man ganz sicher die Nachbarpflanze. Die Wucht aber an einem sonnigen Tag ist der Duft – ausgehend von den vielen Blumen -, der uns bei der Begehung begleitet; einfach umwerfend.
Weit entfernt am Horizont, ennet dem Inntal in Richtung Süden, zeigt sich der Piz Lischana in schönstem Licht. Die Spitze ist immer noch schneebedeckt und auch der Triazzagletscher, zwar halbversteckt, trägt zum imposanten Bild der Unterengadiner Dolomiten bei.
Melapyrum arvense
Zuort - C.calceolus var. flavum
Val Sinestra - Cortusa matthioli
Cortusa matthioli
Polemonium caeruleum
Chöglias – Koch’scher Enzian, Gentiana acaulis
Griosch Pra San Peder Blumenwiese
Krabbenspinne auf der Lauer
Schwefelanemone Pulsatilla alpina ssp. apiifolia
Ackerwachtelweizen mit Albino Melampyrum arvense
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Aktualisiert 02. 02. 2014