Eine ganz besondere Begegnung
Autorin: Marianne Greminger, Foto: Diathek Fred Stadler †
"Unzählige Kilometer habe ich zurückgelegt,
um dich auf der weitläufigen Alp
irgendwo zu entdecken.
Zart und unscheinbar, man könnte dich übersehen,
doch wenn man zu dir niederkniet
und dich aus der Nähe betrachtet,
so verfällt man umgehend deinem Charme."
Angefangen hat alles mit einer alten Goodyera repens-Angabe aus den Achtzigerjahren, die ich vergangenen Frühsommer unbedingt aktualisieren wollte. Der Fundort, den Volker Sahlfrank einst gemeldet hat, liegt hoch über dem Rhonetal am Rand einer weitläufigen Alp namens Randonne und ist entweder von Fully oder von Ovronnaz aus erreichbar. Als ich mich auf die Tour vorbereitete und schaute, was es in dieser doch recht gut kartierten Region so alles zu sehen gibt, fiel mir eine sehr ungenaue, aber überaus interessante Angabe auf: "Aceras anthropophorum, Anacamptis pyramidalis, Dactylorhiza sambucina, Gymnadenia conopsea, Orchis coriophora, Orchis militaris, Orchis morio und Orchis ustulata" stand da geschrieben. Ich traute meinen Augen kaum. Das Stelldichein dieser acht zum Teil äusserst seltenen Orchideenarten ist in jeder Hinsicht etwas Besonderes, sozusagen ein botanisches Highlight, und lässt wohl jedes halbwegs engagierte AGEO-Kartiererherz höher schlagen.
Ich wählte als Ausgangspunkt Ovronnaz, da der Weg mehrheitlich durch Wald führt, keine grossen Steigungen aufweist und ab und zu einen phantastischen Blick auf das tief unten liegende Rhonetal und die zu dieser Jahreszeit noch winterlich weissen Walliser Berge im Süden gestattet. Die Goodyera repens von Volker Sahlfrank, mitunter ein Grund für das gewählte Ausflugsziel, konnte ich, wenn auch auf der anderen Seite des Strässchens, aktualisieren. Nach etwa zwei Stunden erreichte ich endlich den Rand der riesigen Alp, von der ich mir einiges erhoffte. Der erste Augenschein fiel jedoch eher ernüchternd aus: Die Wiesen sahen gar fett aus, und die frischen Kuhfladen im Grün sowie das Glockengeläut, das von ferne zu vernehmen war, verhiessen ebenfalls nicht viel Gutes. Und so war es denn auch: Der Weg, den ich eigentlich einschlagen wollte, führte durch eine Weide, wo die Kühe bereits ganze Arbeit geleistet hatten. Der recht steile Hang glich grösstenteils einem Acker, aus dem allenthalben blattlose, bleistiftdicke Stängel und fahle Grasbüschel ragten. Der offizielle Wanderweg verlor sich unweit des Zauns im Wirrwarr der unzähligen Trampelpfade, welche die Kühe beim Grasen hinterlassen hatten, und irgendwelche sonstigen Markierungen waren weit und breit keine auszumachen. Ich überlegte mir zweimal, ob ich mich an den zahlreichen Eringer Kühen vorbeiwagen sollte, zumal die kräftigen und gedrungenen Tiere mit ihren nach vorne gerichteten Hörnern und dem dunkelbraun glänzenden Fell doch als recht kampflustig und eigenwillig gelten und nur schon beim Anblick einen gewissen Respekt einzuflössen vermögen. (Erst später erfuhr ich vom zuständigen Älpler, dass Eringer Kühe beim Weiden wegen ihrer ausgeprägten Kampfeslust und ihrer ungestümen Wesensart stets bewacht werden müssen.) Vor lauter "Den-Kühen-ja-nicht-zu-nahe-Kommen" erreichte ich das andere Ende der riesigen Weide viel zu weit oben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als durch krautiges, kniehohes Gras zu einem Bildstock abzusteigen, der laut Karte am Wanderweg liegt. Trotz dieses eher unerfreulichen Anfangs liess ich mich nicht entmutigen und marschierte mit nassen Schuhen Richtung Chibo d'en Haut weiter. Kurz vor dem schmalen Holzsteg über den Torrent de Randonne änderte sich dann das Biotop zusehends. Das üppige und dichte Gras wich mehr und mehr einem wunderschönen Halbtrockenrasen. Ein paar Schritte weiter begannen dann bereits erste stattliche Orchis militaris und kräftige Orchis ustulata den Wegrand und die angrenzenden Böschungen zu zieren. Wenn das kein gutes Zeichen war! Ich warf einen Blick auf das Gebiet unterhalb des Weges, das mit seinem lockeren Baumbestand sehr viel versprechend aussah. Warum mich nicht einmal dort unten etwas genauer umschauen?
Da meine erste und einzige Begegnung mit einer Walliser Orchis coriophora schon mehr als zehn Jahre zurückliegt und bedauerlicherweise keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen vermochte, war ich mir nicht mehr so sicher, worauf ich meine Aufmerksamkeit lenken sollte: Wie sah das typische Coriophora-Biotop im Wallis aus? Blühte die botanische Kostbarkeit in diesem doch eher untypischen Jahr und auf dieser Höhe bereits? Waren die Pflanzen wirklich so klein, wie ich sie in Erinnerung hatte? Und wie verhielt sich das jetzt schon wieder mit der Farbe? Und so erkundete ich den terrassierten Hang unterhalb des Weges, ohne genau zu wissen, wonach ich eigentlich zu suchen hatte. Ich liess mich treiben, schaute hier und dort, kletterte Böschungen rauf und runter und erfreute mich an den vielen verschiedenen Orchideen, die hier ihr Zuhause gefunden hatten: Anacamptis pyramidalis, Dactylorhiza sambucina, Gymnadenia conopsea, Limodorum abortivum, Orchis militaris, Orchis morio, Orchis ustulata und Platanthera chlorantha. Hinzu gesellte sich ganz unverhofft auch ein recht grosser Aceras anthropophorum, der unweit einer Schatten spendenden Gruppe Bäume stand und sich eben anschickte, seine ersten Blüten zu öffnen. Obwohl ich die nähere Umgebung genau absuchte - es blieb bei dieser einzelnen Pflanze. Nun fehlte also nur noch die seltenste Orchidee im Reigen - das Wanzen-Knabenkraut! Vor lauter Staunen, Schauen und Kartieren vergass ich die Zeit völlig. Irgendwie scheinen die Zeiger der Uhr beim Orchideensuchen einfach viel schneller als gewöhnlich vorzurücken! Während einer kurzen "spätnachmittäglichen" Rast fiel mir durch das Fernglas am Ende des langgezogenen Hanges nahe der Felskante eine Stelle auf, die durch die vielen blühenden Sonnenröschen ganz gelb gefärbt war und besonders mager zu sein schien. Die wollte ich mir vor dem langen Rückweg nach Ovronnaz unbedingt noch anschauen. Die leicht geneigte Wiese wusste tatsächlich zu gefallen: Um einen 80 cm hohen knospenden Dingel (Limodorum abortivum) scharten sich zuhauf Orchis militaris und Orchis ustulata, so als wollten sie ihm ihre Aufwartung machen. Trotzdem erstaunte es mich ein wenig, dass auf der wunderbaren Terrasse nicht noch weitere Orchideenarten zu finden waren. Ein letztes Mal packte ich das GPS-Gerät aus, nahm die Koordinaten auf und schrieb alles Nötige in mein "Büechli". Erfüllt und zufrieden verabschiedete ich mich anschliessend von diesem besonderen Ort und den vielen Orchideen, die ich im Verlauf des Tages gesehen hatte. Da ich eine erneute Begegnung mit den temperamentvollen Kühen vermeiden wollte, entschied ich mich, am Rand der bereits abgefressenen Weide bis zu den Stallungen aufzusteigen und dann wieder dem kleinen Strässchen Richtung Ovronnaz zu folgen.
Als Erstes galt es, eine Böschung hochzuklettern und unter dem geladenen Elektrozaun durchzukriechen. Ich wollte mich gerade wieder aufrichten und den Rucksack schultern, da sah ich vier Meter vor mir eine aufblühende Orchis coriophora aus einem kümmerlichen Grasbüschel ragen... Ich glaubte zu träumen und brauchte eine ganze Weile, um richtig fassen zu können, was sich mir da offenbarte. Fast einen ganzen Tag hatte ich damit zugebracht, den terrassierten und zuweilen steilen Hang nach dieser botanischen Rarität abzusuchen. Es gab viele Stellen, wo sie meines Erachtens hätte vorkommen können, doch sie tat mir den Gefallen nicht. Und nun stand sie just in jener Weide, wo die Kühe schon fast alles abgefressen hatten. Damit hätte ich wirklich nie gerechnet! -
Und was für ein unbeschreibliches Gefühl war es erst, vor dieser vom Aussterben bedrohten Orchidee zu knien und sie von nahem betrachten zu können: die schlanke, anmutige Gestalt; der dichte Blütenstand; die bräunlich purpurfarbenen, eher kleinen Blüten mit dem geschlossenen länglichen Helm, der in einer nach unten gezogenen Spitze endet; die stark zurückgebogene Lippe, die am Grund hell gefärbt und mit dunkelroten Punkten oder Flecken übersät ist; der merkwürdige, aber nicht unangenehme Duft, welcher der Orchidee den wenig ansprechenden Namen gegeben hat. Ich war fasziniert von ihrer ungewöhnlichen Schönheit. Jetzt gab es trotz vorgerückter Zeit und müder Füsse kein Halten mehr. Vorsichtig suchte ich das kleine Stück Wiese nach weiteren Pflanzen ab. Dafür brauchte ich nur niederzuknien, über den kahlen Boden zu blicken und mein Augenmerk auf die übrig gebliebenen Grasbüschel zu lenken. Innert kürzester Zeit zählte ich nicht weniger als zwanzig knospende oder aufblühende Exemplare, die zum Teil etwas Schieflage hatten, im Grossen und Ganzen aber unversehrt geblieben waren. Beim genaueren Hinschauen fand ich zu meinem grossen Bedauern aber auch etliche Rosetten abgefressener Pflanzen. Der traurige Anblick dieser Überbleibsel und das Wissen um die Seltenheit dieser Orchideen-Art bewogen mich trotz bescheidener Französischkenntnisse letztlich dazu, die Adresse des Präsidenten der Alp-Genossenschaft ausfindig zu machen und mit ihm Kontakt aufzunehmen. Da der Fundort ganz am Rand der Weide liegt und sich auf eine eng begrenzte Fläche beschränkt, wäre es ein Leichtes, die Pflanzen bis zur Samenreife Anfang September einzuzäunen. Nun hoffe ich natürlich sehr, dass der Präsident der Alp-Genossenschaft sich auf einer voraussichtlich Ende April geplanten Begehung dazu auch bereit erklärt.
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Aktualisiert 31. 03. 2014